Geschichte der Juden in Neuss

Die Juden in Neuss

„Die Juden in Neuss“, so heißt das Buch von Stefan Rohrbacher. Er ist Professor für Judaistik an der Universität Düsseldorf.

Wenn er von Juden in Neuss spricht, so spricht er recht spät von ihnen, nämlich im 11. Jahrhundert. Vor dieser Zeit gab es allerdings schon lange eine jüdische Gemeinde in Köln, nur wenige Kilometer von Neuss entfernt. Diese Gemeinde war die erste nördlich der Alpen am Rhein. Das war noch zu römischer Zeit. Kaiser Konstatin verfügte, dass die Juden in Köln siedeln konnten. Im Jahr 321 geschah das. Von einer jüdischen Gemeinde in Neuss war noch lange nicht die Rede.

Erst im 11. Jahrhundert ist in Neuss von Juden die Rede. Das war während der Kreuzzüge. Der Papst hatte 1195 in seiner Kreuzzugspredigt aufgerufen gen Jerusalem zu ziehen, um das Grab Christi von den Muslimen zu befreien. Die herrschten damals dort. Und der Papst ließ nicht unerwähnt, dass es die Juden gewesen seien, die Jesus ans Kreuz geschlagen hätten. Sehr viele Fürsten, Herzöge und Ritter folgten voller Begeisterung dem Aufruf des Papstes. Die Fürsten stellten ein Heer zusammen und machten sich über Land und auf See auf den Weg nach Jerusalem, das heute im Staat Israel liegt. Auf ihrem Weg dorthin zogen sie nicht friedlich durch das Land. Sie raubten, plünderten und mordeten. Die ersten Opfer waren die Juden im Rheinland. Sie waren ja für die Christen die Mörder Christi.

Entlang des Rheins gingen die blühenden jüdischen Gemeinden in den Städten Mainz, Worms und Speyer unter. Das sind die sog. Schum - Städte.

Auch die jüdische Gemeinde in Köln blieb nicht verschont. Es kam zu Ausschreitungen und Gewalttaten gegen die Juden.

Und jetzt kommt zum ersten Mal die Stadt Neuss ins Spiel. Der Erzbischof von Köln wollte die jüdischen Mitbürger in Sicherheit bringen; in sichere befestigte Orte, wie es hieß. Einer davon war Neuss. Wir schreiben das Jahr 1096. Ende Mai kamen die Juden nach Neuss, aber schon wenige Wochen später fielen sie den vorüberziehenden Kreuzrittern zum Opfer. Zweihundert Juden wurden am 24. Juni erschlagen. Niemand schützte sie.

Wieder dauerte es etwa 100 Jahre, bis sich in Neuss eine jüdische Gemeinde bildete. Die Verfolgung nahm aber kein Ende. Die Kreuzzüge waren noch in vollem Gange, und den Juden sagte man Verbrechen an den Christen nach, und zwar aus religiösen Gründen. Im Jahr 1215 setzte Papst Innozenz III, ein gnadenloser Feind der Juden (Nachum T. Gidal), im vierten Laterankonzil antijüdische Bestimmungen durch, die bis ins 20. Jh. demütigende, menschenverachtende Bedingungen ihres Lebens und bösartige Lügen der Juden bildeten.

Und es dauerte wiederum 100 Jahre, bis man von einer jüdischen Gemeinde in Neuss hörte. Diesmal gab es genauere Ortsangaben, wo die Juden wohnten: auf dem sog. Judensteg. Der lag zwischen dem Fischmarkt und dem späteren Hessentor. In alten Urkunden wird von dem Jahr 1291 gesprochen.

Man kann wieder einen zeitlichen Sprung machen bis in das 14. Jahrhundert, genauer in das Jahr 1348. Das war die Zeit der großen Pest, die ganz Europa überzog. Die Bevölkerung machte für dieses Übel auch wieder die Juden verantwortlich. Sie wurden aus Neuss vertrieben.

Juden im Rheingebiet Mitte des 14. Jahrhunderts
Jüdische organisierte Gemeinden waren z.B.:
• Speyer, Worms und Mainz (die Schum-Städte)
• Frankfurt/ Main und Koblenz
• Bonn und Köln
• Neuss, Dormagen, Grevenbroich und Duisburg.

Die Pest wütete in dieser Zeit in Deutschland. Für diese unerklärliche Erkrankung
wurden schnell Schuldige gefunden: die Juden.

Viele jüdische Gemeinden wurden  damals einfach ausgelöscht, auch in Neuss
wurden im Jahr 1349  Juden grausam getötet.

 

Der Sprung wiederum um ein Jahrhundert in das 15. Jahrhundert zeigt für die deutschen Juden folgendes Bild: In den Städten gingen die jüdischen Gemeinden unter. Die Juden wurden auch aus Köln vertrieben; wenig später auch aus Neuss. 1463 war das. Es gab das Judenviertel am Klockhammer. Vorher befand es sich – wie schon gesagt – am Judensteg, der mittlerweile von der christlichen Neusser Bevölkerung bewohnt wurde.

 

Wieder ein weiteres Jahrhundert später ist in Urkunden von der „Joddenschole“ in dem „Klockhamer“ die Rede. Auch in diesem Jahrhundert wurden die Juden aus Neuss vertrieben. Die „Joddenschole“ mit einer Synagoge wurde in ein Wohnhaus umgewandelt. Den Juden wurde verboten, sich in der Stadt nieder zu lassen; es wurde ihnen sogar untersagt, in der Stadt zu übernachten. Wenn sie auf ihren Wegen durch Neuss gehen oder fahren mussten, wurden sie von einem sog. Büttel durch die Stadt geführt. Er war eine Art städtischer Polizist. Das war ein äußerst unangenehmes Schaulaufen durch die Stadt. Natürlich empfanden die durchreisenden Juden das als beschämend und diskriminierend.

 

Der Blick in das 17. Jahrhundert zeigte ein konkreteres Bild. Die schriftlichen Zeugnisse verdeutlichten ab Beginn des Jahrhunderts ca. 1620 ein reges Geschäftsleben zwischen Juden und Christen. In den neunziger Jahren (1694) durften die Juden einen Viehmarkt abhalten. Das mussten sie allerdings vor dem Obertor tun.

Jetzt im ausgehenden Mittelalter zeigte sich deutlich, dass es nur wenige Handwerker und Handelszweige gab, in denen die Juden arbeiten durften. Das waren der Frucht- und Getreidehandel. Er lag am Niederrhein oft in jüdischer Hand. Auch den Pferde- und Viehhandel betrieben jüdische Händler. Reich wurden sie damit allerdings nicht. Deshalb arbeiteten sie als Makler, die auf fremde Rechnung An- und Verkäufe machten. Dabei war ihre Gewinnspanne sehr gering.

Weit verbreitet unter den Juden war das Metzgerhandwerk. Aber auch hier war das Einkommen war das Einkommen schmal. Der Grund: Es gab mehr Metzger als Kunden. Für die Stadt Neuss hieß das: Weit verbreitet war das Metzgerhandwerk in Grimlinghausen.

 

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Und wieder machen wir einen großen Sprung, und zwar ins 19. Jahrhundert. In den ersten zwanzig Jahren wuchs der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Neuss. Es waren 1819 fünfzig Juden. Das war nicht einmal 1% der Bevölkerung. Christen und Juden wohnten in diesen Jahren unter einem Dach. So sagt es der Chronist Stefan Rohrbacher. In dieser Zeit des allmählichen Anstiegs der Bevölkerung jüdischen Glaubens entstand bei ihnen der Wunsch nach einer Betstube. 181 wurde der Antrag gestellt und vier Jahre später wurde er genehmigt. Die Betstube wurde in dem Haus des Josef Grossmann an der Neustraße eingerichtet. Es schien ein normales Leben für die Juden auch in Neuss zu geben. Doch es gab einen Stopp der Zuwanderer im Jahr 1819. Im Spätsommer gab es europaweit Feindseligkeiten gegen Juden. Das sprang auch auf das Rheinland über. Es kam zu Unruhen und Krawallen. Sie gingen von Dormagen aus; ein lokales Ereignis war Anlass, dass es zu Gewalt gegenüber der jüdischen Bevölkerung kam. Die Wogen glätteten sich wieder. Der Aggression folgte ein friedliches Zusammenleben. Das Verhältnis zwischen Juden und Christen glich – wie so oft – einem Auf und Ab, einer Wellenbewegung mit Höhen und Tiefen.

Ein Tief schien wieder überwunden. 1825 nahm die Zuwanderung von Juden nach Neuss wieder Fahrt auf. 1833, keine 10 Jahre später, wohnten 116 Jüdinnen und Juden in Neuss. Respektable Kaufleute waren unter ihnen, aber auch Arme, die schnell in einen schlechten Ruf kamen und verächtlich „Gauner“ genannt wurden.

Ein weiteres Zeichen eines friedlichen und ruhigen Zusammenlebens war die Wahl eines Gemeindevorstehers der jüdischen Gemeinde Ende der zwanziger Jahre (1827). Über 30 Jahre führte er die Gemeinde. Eine friedliche Zeit war das, wenn auch keine Idylle. 1834 kam es wieder zu Unruhen in Neuss. Die Juden wurden beschuldigt, einen Ritualmord begangen zu haben. Auch diese Situation beruhigte sich wieder; und die Zahl der Juden stieg wieder an auf 160 (1854). Das entsprach einem Anteil von 1,5 % der Gesamtbevölkerung. Einher ging mittlerweile die Einweihung eines jüdischen Friedhofs. Die gesicherte Nachricht davon stammt aus dem Jahr 1841. Ein weiteres Zeichen für eine stabile jüdische Gemeinde war die Gründung einer Synagogengemeinde im Landkreis Neuss (1853).

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Wenige Jahre später (1857) sagte das Landratsamt Ja zum Synagogenbezirk Neuss. Er umfasste den gesamten Landkreis. Nur zehn Jahre später am 29. März 1867 konnte die Neusser Synagoge eingeweiht werden. Sie stand an der Promenadenstraße.

 

 

Den Bau der Synagoge kann man mit Sicherheit als den Höhepunkt im religiösen Leben der Juden in Neuss ansehen. Das war nur möglich, weil sich die jüdische Gemeinde gesellschaftlich und wirtschaftlich einen festen Platz in der Neusser Gesellschaft erarbeitet hatte.

Deshalb jetzt der Blick auf diese Entwicklung. Sie kann am Beispiel eines Unternehmers nachgezeichnet werden: Nathan Simons. Er pachtete die städtische Obertormühle und entwickelte sie über die Jahre hinweg zu einer der bedeutendsten Getreidemühlen in Deutschland. Das ging Schritt für Schritt. Die Obertormühle wurde von ihrem alten Standort in die Stadt verlegt, und zwar an die Friedrichstraße (1876). Gute zehn Jahre später wurde ein weiteres Unternehmen der Familie Simons in Betrieb genommen. In der Hochstraße produzierten jetzt eine moderne Ölmühle und eine Raffinerie.

Ein Blick in die Zukunft sei hier gestattet: Im Jahr 1914 feierte man in Neuss das 50jährige Jubiläum der Firma Simons; Neusser Bürger aus Wirtschaft und Politik waren unter den Gästen dieser Feier.

 

Aber zurück in die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in der zweiten Hälfte de 19. Jahrhunderts bis etwa in das Jahr 1900. Jüdische Firmen in Neuss lieferten Getreide ins Bergische Land . Das geschah in großem Umfang. Es waren etwa 60% der Getreidemengen. Der Hafen machte das möglich. Die Nähe des Rheins und die Bemühungen der Stadt Neuss, diesen Standortvorteil für die Wirtschaft zu nutzen, waren die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung. Als Beispiel: Im Hafen standen das städtische Lagerhaus und das Hauptsteueramt.

Führende jüdische Kaufleute in der Stadt waren die Betreiber der Herzfeld-Spinnereinen, die allerdings nach Düsseldorf umzogen. Auch der Manufakturhandel war in jüdischer Hand. Sichtbar in der Stadt waren die Metzgereien, jeder dritte Metzger in Neuss war ein jüdischer Meister.

Diese Entwicklung jüdischen Lebens beschreibt Stefan Rohrbacher. Er sieht den wirtschaftlichen Aufstieg im Zusammenhang mit dem Streben der jüdischen Gemeinde nach bürgerlichem Leben und Lebensstil. Das bedeutete, dass Bildung und Ausbildung der Kinder in den Vordergrund rückten musste.  Seit den 40er Jahren -seit 1843- wurde ein Haus in der Michaelstraße, das der jüdischen Gemeinde gehörte, für Gottesdienste und den Schulunterricht genutzt. Eine einklassige jüdische Elementarschule wurde allerdings erst später eröffnet, und zwar 1873.  Als Lehrer und Prediger arbeitete David Levi 40 Jahre in der Gemeinde. 17 Schüler nahmen anfangs am Unterricht teil. Knappe zehn Jahre später baute die Gemeinde an der Michaelstraße „ein stattliches Haus mit guter Lehrerwohnung“. Das Schulgebäude war mit der Synagoge durch einen schmalen Gang verbunden. Mitte der 80ger Jahre war die Zahl der Schüler von 17 auf 61 gestiegen. Fünf Jahre später (1890) wurde die Schule als öffentliche Volksschule anerkannt.

 

Über zwanzig Jahre bestand sie, bis 1913 ging die Schülerzahl ständig zurück. Als David Levin 1913 in den Ruhestand ging, wurde die Schule geschlossen. Das war die Zeit, in der die Abneigung und Feindschaft gegenüber den Juden in der Gesellschaft zunahmen.

Ein geringer Anlass genügte, um Aggressionen aufflammen zu lassen. Das geschah im niederrheinischen Xanten. Ein Ritualmord wurde den Juden wieder einmal angelastet. Gewalt gegen die Juden machte sich in der gesamten Region breit, auch in Neuss. Das Schulhaus von Lehrer Levi traf es: Die Fensterscheiben wurden zertrümmert. Jüdische Wohnhäuser in der Stadt wurden beschmiert. Das zog sich über Monate hin. Es war jedoch kein lokales Ereignis. Denn schon bei den Reichstagswahlen im Sommer 1893 fand die antisemitische Stimmung eine politische Heimat, und zwar in der deutsch-sozialen Partei.

Doch beruhigte sich die Situation wie immer. Dennoch verließ ein Viertel der Juden Neuss, das waren hauptsächlich Jüngere, die in die benachbarten Großstädte zogen, nach Köln, Düsseldorf oder Dortmund. Die Zahl von 361 Juden in Neuss im Jahr 1890 wurde niemals wieder erreicht.  Auch wenn sich das Verhältnis von Juden und Christen vor Ort wieder normalisierte und man zu einem normalen Zusammenleben fand, indem man sich akzeptierte und zusammen arbeitete, übersah man nicht die ständige Gefahr, dass man sich den Neusser Juden gegenüber feindselig verhalten konnte. Als Antwort auf antisemitische Stimmungen gründeten jüdische Mitbürger den „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Dieser Verein gab ein Monatsblatt heraus „Im Deutschen Reich“. Dieses Blatt wurde auch in Neuss gelesen. Es orientierte sich an der Partei der Sozialliberalen. Das war folgerichtig, denn die Juden waren kulturell und gesellschaftlich weitgehend integriert, so auch in ihren politischen Ausrichtungen. Das galt über Jahre hinweg; man war deutschnational gesinnt.

Damit sei der Sprung 1914 getan. 1914 feierte die Firma Simons ihr 50jähriges Firmenjubiläum. Das Unternehmen war aufgestiegen in die erste Reihe der Großmühlen in Deutschland. Gefeiert wurde in Neuss in den Pelzerschen Sälen. Neusser Honoratioren gaben sich die Klinke in die Hand. Oberbürgermeister Gielen sprach im Namen der Königlichen Regierung, der Stadtverwaltung und der Neusser Bürgerschaft. Im Auftrag der Neusser Handelskammer sprach Herr Wehrhahn. Die NGZ berichtete ausführlich über dieses Ereignis.

In das Jahr 1914 fiel ein weiteres denkwürdiges Datum, der Beginn des 1. Weltkrieges. Bis tief in die Bevölkerung hinein wurde der Eintritt des Deutschen Reiches in den Krieg begrüßt. Das galt auch für die Deutschen jüdischen Glaubens. In den jüdischen Bürgerhäusern kam es zu einem opferbereiten Patriotismus. Viele Juden meldeten sich freiwillig an die Front. In diesem Krieg sind 12000 deutsche Soldaten jüdischen Glaubens gefallen. Verständlich, dass es die Juden verbitterte, dass es eine sog. Judenzählung unter den Soldaten gab, die von antisemitischen politischen Kreisen gefordert wurde.

Nach dem Ende des Krieges begann eine schwere Zeit: Die Weltwirtschaftskrise brachte Armut und Not und dazu drückte die langjährige Besatzung durch belgische Truppen in Neuss auf die Stimmung.

Anfang der 20ger Jahre musste die Produktion der Ölmühle N. Simons & Söhne vorübergehend eingestellt werden. Die Lieferketten waren unterbrochen. Wenige Jahre später, im November 1928 kam es zum Zusammenbruch der Firma. Das gleiche Schicksal traf die Futtermittelmühle der Gebrüder Hoffmann. Doch bald fanden sich Käufer: Die Fa. Simons ging an die Fa. Walter Rau und die Mühle Hoffmann an die Fa. C.B. Michael. Die Kunstwollfabrik Felix Michaels & Cie. War schon 1917 an die christliche Konkurrenz verkauft worden, und zwar an die Fa. Gebrüder Lonnes.
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Die zwanziger Jahre waren die Jahre der Weimarer Republik.

 

In dieser Zeit erstarkte der Antisemitismus erneut. Dagegen stemmte sich der „Centralverein“ in seinem Mitteilungsblatt „Glaube und Heimat“. Deutschland stand für die Juden als Heimat, Vaterland außer Frage. Palästina als die Heimstätte für jüdische Volk in Erwägung zu ziehen, wurde als gefährlicher Irrweg abgelehnt. Heimat blieb im Bewusstsein von Deutschen jüdischen Glaubens Deutschland. Die Wahrung der religiösen Tradition stand gleichberechtigt neben der Treue zum deutschen Vaterland.  Das lebten auch die Neusser jüdischen Glaubens. Man stand darin den Neusser Katholiken in Glaubenstreue und Heimatverbundenheit in nichts nach. So kann man das politische Klima in Neuss als recht stabil bezeichnen. Vom zunehmenden Antisemitismus in der Weimarer Republik war in der Stadt Neuss kaum etwas zu spüren; so der Chronist jüdischen Lebens in Neuss, Stefan Rohrbacher.

Ein Name muss in diesem Zusammenhang genannt werden: Benno Nussbaum, der Kantor der jüdischen Synagogengemeinde. Er hatte prägenden Einfluss auf die jüdische Gemeinde. Er kam nach Neuss und lebte hier bis zu seiner Deportation nach Riga. Dort wurde er 1944 im Konzentrationslager ermordet.

Die Nationalsozialisten konnten sich 1933 in ganz Deutschland etablieren durch die sog. Machtergreifung, die aber eher eine Machtübergabe war. Mit dem Ermächtigungsgesetz verschafften sich die Nazis die politische Legalität. Die Kommunisten waren schon vom Wahlvorgang ausgeschlossen, die Sozialdemokraten wehrten sich vehement und stimmten geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz. Alle anderen Parteien, z.B. auch das Zentrum, stimmten zu, und ermöglichten den Nazis in der Zukunft, Recht und Gesetz nach Vorstellungen der Nationalsozialisten zu gestalten.

Zurück nach Neuss:

Im Jahr 1933 gehörten zur Neusser Synagogengemeinde 227 Juden; das war ein Bevölkerungsanteil von 0,4 Prozent.  Der kontinuierliche Rückgang der Neusser jüdischen Glaubens soll hier nachgezeichnet werden: 1938 waren es 138 Gemeindemitglieder; 1939 waren es 99; 1941 waren es 61; und am 29.November 1942 wurde öffentlich mit den zynischen Worten gemeldet:  Neuss ist“ judenrein“.

Die Vernichtung der jüdischen Gemeinden wurde vom SS-Staat systematisch betrieben, so auch in Neuss.

Schon im März 1933 wurden die jüdischen Gläubigen nach ihrem Gottesdienst belästigt. Einen Monat später wurde der allgemeine Boykott jüdischer Geschäfte ausgerufen. Am Morgen des 1. April zogen SA-Posten vor den jüdischen Geschäften auf, um Kunden vom Einkauf abzuhalten. Die Passanten nahmen das ohne erkennbare Teilnahme hin; und die Ladenbesitzer schlossen ihre Geschäfte schon mittags. Diese Demütigungen wurden bald als etwas Alltägliches akzeptiert. Schlag auf Schlag nahm auch in anderen Bereichen die Entrechtung jüdischer Mitbürger zu. Seit März 1933 wurden jüdische Richter und Staatsanwälte aus Strafgerichten ausgeschlossen. Im April wurden sog. nichtarische Beamte in den Ruhestand versetzt. In diesem Monat griff man weiter durch: Jüdische Rechtsanwälte wurden nicht mehr zugelassen; jüdischen Ärzten wurde die Krankenkassenzulassung entzogen; die Einschreibung an Hochschulen wurden nur noch sog. Arischen Studenten erlaubt, Studenten jüdischen Glaubens wurden ausgeschlossen.

In Neuss war das Verhältnis zwischen jüdischen und christlichen Nachbarn noch ungetrübt, heißt es bei Stefan Rohrbacher. Die katholische Bevölkerung empfand eine tiefe Abneigung gegenüber dem neuen Regime der Nationalsozialisten.

Dennoch wollten gerade viele Jugendliche der Synagogengemeinde nach Palästina auswandern. Kenntnisse in der Landwirtschaft waren dafür Voraussetzung. In Büttgen gab es zu diesem Zweck ein landwirtschaftliches Ausbildungslager auf einem Bauernhof.

Zwei Jahre gingen ins Land, eine Wende zum Besseren war nicht zu erkennen. Die sog. „Nürnberger Rassengesetze“ wurden erlassen. politische Propaganda und Denunziationen drängten die jüdische Bevölkerung immer weiter in die Isolation. Ihre wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zusehends. Dieser rassistische Terror zermürbte das Alltagsleben. Alte Freundschaften hielten den Druck oft nicht mehr aus.

 

Anfang 1935 waren in Neuss noch 38 jüdische Geschäfte und Agenturen registriert.  Die Kreisleitung der NSDAP aber trieb die sog. Arisierung jüdischer Geschäfte intensiv voran. Verkäufe oder Geschäftsaufgabenwaren an der Tagesordnung. Auch als Handelsvertreter durften Juden nicht mehr arbeiten.

Ein weiterer Schlag folgte gegen die Synagogengemeinde. Bisher waren sie Körperschaften des öffentlichen Rechts, nun wurden sie zurück gestuft auf den Status eingetragener Vereine. Damit verloren sie Steuerbefreiungen und schlimmer noch, sie standen unter staatlicher Aufsicht.

Seit Beginn der NS Herrschaft hatten 105 Gemeindemitglieder Neuss verlassen. Die Gemeinde war überaltert, sie verarmte immer mehr: der Druck nahm immer mehr zu. Der Freiraum wurde eingeengt. Die Gestapo kontrollierte alle Zusammenkünfte und alle Gottesdienste. Es sollte noch schlimmer kommen. Am 9. November 1938 ereignete sich die Reichspogromnacht, die sog. Kristallnacht. Neusser und Düsseldorfer SA-Leute stürmten die Synagoge und verwüsteten sie. Der Führer der Neusser Ärzteschaft besorgt Benzinkanister. Das jüdische Gotteshaus ging in Flammen auf. In den frühen Morgenstunden demolierten SA-Leute die noch wenigen jüdischen Geschäfte. Die Wohnungen der jüdischen Mitbürger wurden verwüstet, die Bewohner verhaftet, gequält, misshandelt und durch die Straßen der Stadt gejagt.

Dieses Jahr 1938 endete mit einer Fülle von Maßnahmen, die das körperliche, geistige und seelische Leben der jüdischen Mitbürger vernichten sollte.  Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12.11.1938 wurde die wirtschaftliche Existenz der Juden endgültig vernichtet. Geradezu Schlag auf Schlag ging es weiter. Seit dem 12. November wurde den Juden der Besuch von geglichen Kulturveranstaltungen verboten. Seit dem 14. November kam das Verbot des Besuchs von Schulen und Hochschulen hinzu. Seit dem 28. Dezember war es Juden nicht mehr gestattet, bestimmte Stadtbezirke zu betreten. Nur zu festgesetzten Zeiten durften sie das Haus verlassen. Ab 3. Dezember 1938 durften die Juden keine Autos oder Motorräder mehr fahren oder besitzen. Nur drei Tage später am 6.12. wurde verfügt: Juden dürfen nicht mehr Bibliotheken, Lesehallen, Museen, Badeanstalten oder Sportplätze besuchen. Ab 1. Januar 1939 mussten alle Jüdinnen und Juden in ihren Pässen zusätzlich zu ihrem Vor- und Familiennamen die Vornamen Israel für die Männer und Sara für die Frauen eintragen lassen.

Am 17. Mai 1939 hat die Neusser Synagogengemeinde noch 99 Mitglieder. Die Lage wurde immer hoffnungsloser. Der finanzielle Druck erhöhte sich. Innerhalb von 14 Tagen mussten in den Monaten Februar und März sämtlicher Schmuck abgeliefert werden. Wenn es noch gelang auszuwandern, musste auch das sog. „Umzugsgut“ eine Sonderabgabe gezahlt werden. Vorher hatte man schon die Einkommenssteuer erhöht. Auch die sog. „Sühneleistungen“ wurden angehoben. Diese Maßnahmen zielten auf den finanziellen Ruin der Juden. Zur endgültigen Entwurzelung der jüdischen Familien sollte das „Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“ führen. Das geschah im März 1939. Die jüdischen Mitbürger konnten sich nicht mehr auf Mieterschutz oder den Schutz vor Räumung ihrer Wohnungen berufen. Für die NS Machthaber war der Weg frei, sog. „Judenhäuser“ einzurichten. In sie wurden die Juden eingewiesen. In Neuss waren das zum Beispiel die Kapitelstraße 1, die Kanalstraße 65, die Niederwallstraße 15, am Büchel 5, und die Küpperstraße 2 in Grimlinghausen. Das hieß, dass die jüdischen Mitbürger von der Bevölkerung völlig abgeschnitten waren. Diese Isolation führte zwangsläufig dazu, dass die Kontakte zu Nachbarn und Freunden vollständig unterbrochen wurden. Hinzu kam noch, dass Juden nur zu bestimmten Zeiten die Häuser verlassen durften und nur in bestimmten Geschäften einkaufen mussten. Ständiger Begleiter war die Angst vor Denunzianten und Spitzeln. Diesem Terror zu entkommen war unmöglich, zumal nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges am 1. September 1939. Die Schikanen gingen weiter. Seit dem 1.9. mussten alle Juden den sog. Gelben Stern tragen.

 

In den Kriegsjahren ab 1939 kam es zu den Deportationen in die  Konzentrationslager und schließlich in die Vernichtungslager.

 

Neusser Juden wurden nach Lodz, Riga und Theresienstadt deportiert. 24 Neusser Juden wurden am 26.10.1941 vom Güterbahnhof Düsseldorf-Derendorf mit einem Güterwaggon nach Lodz gebracht. Keiner kehrte mehr zurück. Im Dezember 1941 wurden 1009 Juden aus dem Ruhrgebiet und dem Rheinland, darunter 25 aus Neuss, nach Düsseldorf gebracht und von dort nach Riga deportiert. Unter ihnen war der jüdische Kantor Benno Nussbaum aus Neuss. Er wurde zum verantwortlichen Leiter des Transports bestimmt. Er war in Riga geistlicher Betreuer seiner Glaubensbrüder. Im März 1944 wurde er ermordet. Am 22.Juli 1942 fuhr ein Sonderzug von Aachen nach Theresienstadt. In Neuss stiegen die letzten Bewohner des Judenhauses Küpperstraße 2 in diesen Zug. Nur ein Neusser Ehepaar erlebte die Befreiung des KZ Theresienstadt.

 

Am 23. November 1942 kam die zynische Meldung, dass Neuss „judenrein“ sei.

 

 

 

Angelika Weißenborn-Hinz

Dr. Dieter Weißenborn

 

 

 

Zum jüdischen Leben in Neuss ab 1945, vor allem aber ab 1990 bis heute, folgen weitere Informationen. Dazu gehört auch die im November 2002 gegründete Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Neuss e.V.