Zum Gedenken an die Pogromnacht am 9. November hielt Bert Roemgens, Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, eine sehr eindringliche Rede.
Hier der Text im Wortlaut:
Kwod Ha’Rav,
sehr geehrter Herr Rabbiner Kaplan,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Breuer,
sehr geehrter Herr Landrat Petrauschke,
Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit,
sehr geehrte Damen und Herren aus Politik und Verwaltung,
verehrte Gäste,
Am 9. November 1938, also heute vor 84 Jahren wurde genau an dieser Stelle die Neusser Synagoge niedergebrannt. Vor 84 Jahren begann der Auftakt zu Rassenwahn, zur Entwürdigung, zur Folterung und zum systematischen Morden und Töten, an dessen Ende die Vernichtung von 6 Millionen Juden stand. 6 Millionen Männer, Frauen und Kinder jüdischen Glaubens.
Schon deutlich vor diesem Datum wurden Neusser daran gehindert, in jüdische Geschäfte zu gehen beispielsweise in das Kaufhaus Arlsberg oder die Konfektionsgeschäfte von Isaak Gottschalk und Sally Levy.
Jüdische Familien mussten später ihre Wohnungen verlassen und in sogenannte Judenhäuser auf der Büttgerstraße 18, Kanalstraße 65 oder Büchel 31 ziehen. Die leergezogenen Wohnungen und Häuser gingen direkt und ausnahmslos in den Besitz des Deutschen Reiches.
Die in Kraft getretenen Nürnberger Rassegesetze taten das Übrige zur Entwürdigung der Gemeindemitglieder der Jüdischen Gemeinde Neuss, die den Ereignissen vollkommen hilflos gegenüberstanden. All dies geschah in der Regel ohne erkennbare Teilnahme der übrigen Stadtgesellschaft.
Schrecklicher Höhepunkt war der 9. November 1938 als der Düsseldorfer Gauleiter der NSDAP in Neuss telefonisch die Anweisung für die Durchführung der „Judenaktion“ gab. Gegen Mitternacht drang die SA in die Synagoge hier an der Promenadenstraße ein und verwüstete die Innenräume. Der Führer der Neusser NS-Ärzteschaft organisierte die Benzinkanister und wenig später ging die Synagoge in Flammen auf. Gemeindemitglieder wurden aus ihren Häusern gezerrt, durch die Straßen gehetzt, blutig misshandelt und verhöhnt.
Der pflegebedürftige Aron Heumann wurde aus seiner neben der Synagoge gelegenen Wohnung geholt und musste unter den Fußtritten und dem Gejohle der teilweise betrunkenen SA-Männer den Gehsteig vor der schwelenden Ruine säubern.
In den Folgewochen und Monaten folgte für diejenigen Neusser Juden, die nicht fliehen konnten, die Deportation in die Lager Lodz, Riga, Theresienstadt und schließlich Auschwitz. Dies bedeutet, vor 84 Jahren begann auch in Neuss der unbeschreibliche Leidensweg für Millionen jüdischer Frauen, Männer und Kinder, der für die meisten von Ihnen in Ermordung und industrialisiertem Töten endete. Wenn wir uns heute daran erinnern, können wir dies nur, indem wir auch zeitgleich die Verantwortung für die heutige Zeit – für unsere Zeit übernehmen.
Antisemitismus war nie weg und was wir ebenfalls seit einigen Jahren bitter erfahren müssen, ist, dass soziale Netzwerke Antisemitismus und Rassismus geradezu salonfähig machen. Wenn vor einigen Jahren antisemitische Aussagen verdeckt getätigt wurden, ist es heute geradezu „normal“ dies mit dem Klarnamen versehen zu äußern.
Offener Antisemitismus, offener Rassismus, Judenhass, Hass gegen Migranten ist in die gesellschaftliche Mitte gerückt. Radikal Rechte und auch radikal Linke versuchen in die Mitte der Gesellschaft zu kommen, zum Teil auch aus wahlstrategischen Gründen.
So vergeht keine Woche, kein Tag, in dem medial nicht über einen rechten Übergriff berichtet wurde. Nicht mehr nur auf jüdisches Leben, vielmehr mittlerweile auch auf staatliche Organisationen und Institutionen.
Es gibt zahlreiche Beispiele, wie z.B. Demonstrationen in der Pandemie wo Coronagegner den gelben Stern, also das Sinnbild für Entmenschlichung und für den Mord an über 6 Millionen Menschen im Kontext „Impfen“ nutzen. Oder der durch die Querdenker formulierte Begriff „Impfen macht frei“ adaptiert an das von den Nazis formulierte „Arbeit macht frei“ und somit eine absolute Bagatellisierung des unendlichen Leids der Opfer des Holocausts und eine klare antisemitische Aussage.
Seit 9 Jahren darf ich stellvertretend für die Jüdische Gemeinde den Wortbeitrag zur Gedenkveranstaltung der Pogromnacht gestalten.
Ich appelliere in meinen Beiträgen an die Stadtgesellschaft für ein demokratisches Miteinander, für ein gemeinsames Arbeiten an demokratischen Werten und auch für ein vielfältiges Miteinander. Unsere Gesellschaft ist vielfältig und wir müssen respektvoll miteinander umgehen. Aber wie ich schon im letzten Jahr erwähnte, ich bin mir nicht sicher ob dies ausreicht. Hier ist deutlich mehr gefordert. Hass und Hetze, Antisemitismus und Rassismus in den Social Medias nimmt zu.
Extra zur Kontrolle geschaffene Behörden versuchen dies zu verfolgen und juristisch zu reglementieren. Verstärkter Polizeischutz vor jüdischen Institutionen, auch hier in Neuss, und die sicherlich und absolut unter positiven Vorzeichen ins Leben gerufene „Dunkelfeldstudie“ also die Studie, die vom Land in Auftrag gegeben wurde und untersuchen soll, wie weit Antisemitismus in der Bevölkerung verbreitet ist: dies alles gilt als Eingeständnis , dass es weiterhin Antisemitismus, Hass auf Juden und Hass auf jüdische Einrichtungen und Institutionen gibt und gab.
Mittlerweile gibt es auch diverse Hochschulen, die sich wissenschaftlich mit dem Phänomen des Antisemitismus beschäftigen und es gibt auch einzelne Worte mit einem Alleinstellungsmerkmal wie z.B. Israelfeindlichkeit – oder kennen Sie Italienfeindlichkeit, Polenfeindlichkeit oder Ungarnfeindlichkeit?
Diese Länder erwähne ich ganz bewusst, weil um uns herum im demokratischen friedlichen Miteinander der europäischen Union Parteien mit zumindest faschistischen Wurzeln von der Mehrheitsbevölkerung mit der Regierung beauftragt wurden. Und dies macht mir Angst.
Die einzige Möglichkeit, die wir haben ist, in breiter Front aus dem demokratisch bürgerlichen Lager gemeinsam wachsam gegen das zu sein, was sich schon längst entwickelt hat. Und wir müssen gemeinsam demokratisch dagegen angehen, müssen in unserem eigenen sozialen Umfeld, in unserem eigenen virtuellen sozialen Netzwerk Position gegen dieses Unrecht beziehen. Hier sind wir alle gefordert. Ansonsten verlieren wir das wesentliche was wir haben – den menschlichen Respekt voreinander.
Dieses schreckliche Drama und das verordnete industrialisierte Töten von 6 Millionen Menschen, Männer, Frauen und Kindern hat nicht mit dem Bau von Gaskammern begonnen, sondern es hat damit begonnen, Menschen auszugrenzen und Menschen nicht respektvoll zu behandeln. Der Sinn von Gedenkveranstaltungen soll nicht sein, Schuld aufzuladen, aber der Sinn soll sein, zu sensibilisieren und Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die dramatischen Ereignisse von damals nicht mehr geschehen.
Keiner von uns kann das geschehene Unrecht rückgängig machen, aber wir alle haben die Verantwortung, dass Antisemitismus, Rassismus, dass Ausgrenzung von Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion und ihrer sexuellen Orientierung nie wieder vorkommen darf.
Max Mannheimer ein Holocaustüberlebender, dessen Lebenskreis sich vor sechs Jahren schloss, sagte: „Ihr seid nicht an dem Schuld, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.“
Das Gedenken an die Vergangenheit, ist die Gestaltung der Zukunft. Das ist der Leitsatz, den man liest, wenn man Yad Vashem betritt. Yad Vashem, die nationale israelische Gedenkstätte des Holocaust, durfte ich vor ein paar Wochen mit SchülerInnen des Nelly-Sachs-Gymnasiums und des Marienberg-Gymnasiums aus Neuss besuchen.
Ich bin sehr froh, dass SchülerInnen aus Neuss in den Austausch mit einer israelischen Schule gehen, denn nur durch das Kennenlernen, durch das Bilden von Freundschaften gelingt es uns, Vorbehalte zu überwinden. Diese so klein klingenden Begegnungen haben für mich deutlich mehr Wert, als Worthülsen und Lippenbekenntnisse gegen Ausgrenzung.
Diese Begegnung im September, vor knapp 8 Wochen hat dazu geführt, dass sich junge Menschen aus Neuss und Herzliya getroffen haben, Beziehungen entstanden sind, die fortgeführt werden.
Somit wird automatisch Ausgrenzung und vorurteilsbehaftetes Denken ausgeschlossen. Es entstehen Bekanntschaften und sogar Freundschaften, man verabredet sich und freut sich auf den nächsten Besuch.
Es ist ein respektvoller und empathischer Umgang miteinander. Deshalb bedeutet es für mich mehr als Worthülsen und Lippenbekenntnisse.
Denn diese Generation ist es, die dafür Sorge trägt, dass Antisemitismus, Ausgrenzung und Rassismus in Zukunft nicht mehr geben darf. Diese Generation hat hierfür die Verantwortung.
Deshalb gilt mein ganz persönlicher Dank all denen, die diese Begegnung möglich gemacht haben.
Wir aus der Jüdischen Gemeinde können und wollen alles dafür tun, dass sich diese schrecklichen Ereignisse nicht mehr wiederholen und freuen uns sehr, dass wir durch unser Gemeindezentrum oder die Einweihung der neuen Synagoge nach ‘38 im letzten Jahr ein Zentrum der Begegnung für die Neusser Stadtgesellschaft geschaffen haben.
Das was geschehen ist, dieses sinnlose Entmenschlichen und Morden, darf nie wieder geschehen.
Dies ist ein Auftrag an uns alle.
Shalom.